Ist nach dem Erwachen  - vor dem Erwachen?

 Ja, das ist durchaus möglich, dass ein erwachender Mensch auch wieder einschläft. Wenn jemand erwacht, ist das vorwiegend das geistige Bewusstsein, das sich seiner selbst bewusst wird. Es erwacht aus seinem Traum, eine getrennte Person zu sein und fällt zurück in die Einheit. Es ist ein tiefes Erkennen, dass das Ich mit seiner ganzen Geschichte noch nie existiert hat, eben nur als Geschichte oder Traum.
Diese tiefe Einsicht kann plötzlich geschehen oder man fließt allmählich in die geistige Wachheit hinein und realisiert immer mehr seine wahre Natur. Gleichzeitig wird auch das Gefühls-Bewusstsein im Körper mit aktiviert, das alle unsere Emotionen, Gefühle, Empfindungen, Reflexe, Gewohnheiten und konditionierte Abläufe beinhaltet. Dadurch können sich manche Muster und Schatten aus dem Körper lösen. Wieviel sich beim Erwachen löst und befreit, ist so individuell, wie es Menschen gibt.
Nach dem Erwachen ist man also geistig wach und zum Teil auch von gewohnten Verhaltensmustern, Anhaftungen, Reflexen und Schatten erlöst. Nun liegt es an jedem Einzelnen, ob er sich weiter befreien möchte oder nicht, ob er sein waches Bewusstsein weiter vertiefen möchte, oder nicht.
Dabei stellt sich natürlich auch die Frage, inwiefern jeder für sich selbst entscheiden kann, wie weit und wie tief man auf die innere Forschungsreise gehen möchte? Manche müssen einfach diesen inneren Weg   gehen, manche schnuppern nur und nehmen ihn zur Beruhigung und wieder andere fangen an und hören wieder auf. Es ist nicht für jeden bestimmt, zu erwachen und auch nicht für jeden dran, die absolute Freiheit und Erleuchtung zu erlangen. Aber klar ist, dass jede Variante vollkommen in Ordnung ist.
Natürlich ist es nach dem Erwachen viel einfacher, an sich zu arbeiten, die Selbsterforschung zu praktizieren und sich weiter zu befreien. Denn jetzt erst ist es einem möglich, aus dem freieren Bewusstsein heraus wahrzunehmen und zu beobachten, was an Gedanken oder Mustern auftaucht. Zuvor schaut man eigentlich immer aus dem Ego-Verstand und nimmt daraus wahr. Möglicherweise glaubt das Ego, dass es klar sieht und wahrnimmt, weil es ja immer von sich aus schaut und sich selbst und seine Wahrnehmung nicht in Frage stellt. Wenn der klare Blick eines wachen Lehrers nicht genutzt wird als Referenzpunkt und Spiegelung, ist es kaum möglich, aus der Ego-Blase herauszukommen. Die Täuschung hält den Blick gefangen.

Was häuft passiert, wenn jemand ein Erwachen erlebt (hat) und dann für sich innerlich nicht  weitergeht, dass sich nun das spirituelle Ego immer mehr Raum nimmt und auf ganz subtile Weise eine erneute Identifikation hervorbringt oder die noch vorhandene sich verstärkt. Wenn der Erwachende sich dieser Herausforderung nicht stellt, schlägt er für sich die Tür - zur weiteren Befreiung und Vertiefung - zu. Er wird sich immer mehr mit dem spirituellen Ego-Schatten identifizieren und wieder mehr oder weniger einschlafen. Da er aus diesem "spirituellen" Ego-Schatten spricht und erlebt, ist ihm das große Ausmaß der Täuschung  nicht bewusst und er glaubt nach wie vor, wach und frei zu sein und dementsprechend auch klar wahrzunehmen. Der Ausdruck des Musters kann eine spirituelle Arroganz und Überheblichkeit sein, die ihn dann immer mehr in die Trennung und Abspaltung führt als in das wahrhaftige Einssein.
In diesem beschriebenen Fall bräuchte es eine erneute Hinwendung zu einem wachen und freien Lehrer, der ihn begleitet, sich aus diesen Mustern zu befreien. Dabei ist viel Demut und Hingabe gefordert.
Aber mal ganz ehrlich, welcher Erwachte, vor allem welcher erwachte Lehrer wäre wirklich bereit, noch einmal sein so hart erworbenes spirituelles Gesicht verlieren zu wollen? Nach der oft langen und erschwerten Suche möchte man sich nicht noch einmal aufraffen und das loslassen, worin man sich jetzt gerade frisch eingerichtet hat: in einem scheinbar erwachten und freien Zustand. Diesen sogenannten „Erwachten“ geht es dann ähnlich wie den Langzeit-Suchenden: Irgendwann ist es genug. Man will sich nicht noch einmal auf einen Prozess einlassen und ein weiteres Mal sterben. Es ist klar, dass dieser Verlust weitaus schmerzhafter wäre als der vor dem Erwachen, denn hier wiegt man sich schon in Sicherheit, das lang Ersehnte und "Besondere" erreicht zu haben, d. h. ein Erwachter zu sein.
Für die meisten Suchenden ist der Weg der Befreiung und der Selbsterforschung nicht attraktiv. Sie finden ihn zu anstrengend und sind nicht bereit, etwas für ihre Befreiung zu investieren. Sie wollen das Erwachen haben und zwar so schnell wie möglich. Aber Erwachen ist nicht etwas, was man sich erkaufen oder erlernen kann. Vielmehr geht es ums Verlernen und ein inneres Leerwerden. 

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Man darf sich bewusst sein, dass solange man nicht weitgehendst im freien Bewusstsein gegründet ist und sein wahres Seins-Wesen nicht wirklich geistig und körperlich realisiert und manifestiert hat, wird der Verstand immer wieder auf subtile Weise wirken und die wahrhaftige Sichtweise vernebeln. Denken wir an die Lehre von Advaita. Advaita weist direkt auf die Nicht-Zweiheit hin, auf das Absolute. Dieses Konzept kann nur solange wirkungsvoll sein, wie der Suchende diese direkte Hinweise und Worte in sich aufnimmt und sich von ihnen berühren lässt. Für mich waren diese Worte damals wie ein Hammerschlag, weil sie meine Sichtweise komplett veränderten und mich aus meinem gewohnten Wahrnehmen heraushebelte. Mir war aber auch bewusst, dass Advaita nicht der komplette Weg darstellt und mich zu meiner Befreiung führt. Denn wenn man ihn als Weg nimmt, dann gerät man zu leicht in die Abspaltung von der Materie d. h. dem Körper mit den Mustern und Schatten, die ja trotzdem alle noch in uns wirken. 
Als ich damals meinen inneren Befreiungsprozess machte, sah ich sehr viel in die Augen von Ramana Maharshi, weil ich in ihm das pure Sein sah, direkt und unverblümt. Er spiegelte mir mein inneres Sein, das ich schon selbst in mir wahrnahm, aber noch nicht realisiert hatte. Was ich sah, war für mich einfach nicht in Worte zu fassen. Es überstieg alles, was mein Verstand irgendwie kannte. Es war eine Liebe und ein Frieden, die alles umfasste und doch jeneseits von allem war. Gleichzeitig nahm ich aber auch wahr, dass ich  einen Lehrer als Spiegel bevorzugen würde, der auch den weltlich materiellen Weg mit all den persönlichen Mustern, Konzepten und alltäglichen Problemen durchlebt hat. 

Die Inder und ihre Advaita-Lehre weisen darauf hin, dass wir nicht der Körper sind und verneinen somit das ganze körperliche und weltliche Konzept. Da wir aber in der Welt leben und einen Körper haben, geht der Weg der Befreiung durch die Materie, schließt den Körper und die Muster mit ein, um sich aus deren Identifikation zu befreien. Dann ist man in der Welt und spielt das Gottes-Spiel mit, aber ist nicht mehr verhaftet mit ihr. Denn erst, wenn der Geist in Frieden ist und unser ganzes Bewusstsein und Verhalten den Frieden tatsächlich auch zum Ausdruck bringen, können wir den Frieden und die Liebe dauerhaft erleben und sein.

Jedes spirituelle Konzept, sei es Advaita, Zen, Religionen oder auch andere Konzepte und Heilsversprechungen, die von irgendwelchen Gurus, Lehrern und Meistern angeboten werden, können immer nur als Hinweise dienen und für eine zeitlang wunderbar angewandt werden. Sobald aber ein feststehendes Konzept oder eine Religion daraus gemacht wird, sind sie nutzlos und wirkungslos. Denn die Wahrheit ist nicht vermittelbar durch eine Lehre. Unser Geist ist aber so programmiert, dass er wissen möchte, wie er von A nach B kommt, wie kann ich Erwachen und Erleuchtung erreichen? Er glaubt dann, dass er einfach etwas Bestimmtes tun muss oder eben nichts tun muss und darauf wartet, bis es geschieht.
Wer ernsthaft seine wahre Natur entdecken und realisieren möchte, der wird sich früher oder später auf die Forschungsreise in sein Bewusstsein einlassen wollen, in dem er berührt und geführt wird von seinem inneren Sein und meistens gleichzeitig von einem äußeren spirituellen Lehrer oder Freund. Der Weg nach Innen ist durchwoben von einem gewissen Zauber, weil man sich auf ETWAS einlässt, was man nicht kennt und nicht wirklich beschreiben kann. Und doch ist es einem zutiefst vertraut. ES übersteigt das Verstehen und jede Begrifflichkeit. Man kann alles, was man sich bisher in der Welt so angeeignet hat und was dort als Methode gewöhnlich funktioniert hat, so ziemlich hinter sich lassen. Denn es geht um einen radikalen Shift in eine neue Dimension. Deshalb muss dieser Schritt so revolutionär sein und so anders, dass er den Suchenden aus seiner bisherigen Glaubens- und Erlebenswelt entkoppelt. Man verliert die Glaubensmuster, die Anhaftungen an sie, das Leid, die Sorgen und den Kampf. Man verliert das Wissen und die Kontrolle, zu glauben wie es geht und alles selbst hinkriegen zu müssen. Stattdessen erlebt man eine unendliche Freiheit, im zeitlosen JETZT anzukommen und zu SEIN.

Wer den Weg zu sich nach innen geht, fängt an, eine wahrhaftige Beziehung zu sich selbst - seinem wahrhaftigen Wesen - aufzubauen. Es erinnert manchmal ans Verliebtsein. Man verliebt sich und möchte den Geliebten oder die Geliebte immer wieder sehen, hören, sprechen, riechen, spüren, wahrnehmen und treffen. Eigentlich möchte man ihn nicht mehr loslassen und für immer mit ihm zusammen sein. Man möchte ihn einverleiben, sich ihm hingeben und ihn vollständig in sich aufnehmen - man möchte eins mit ihm sein.
Das Einssein fordert jedoch den Verlust deiner Einbildungen und Sorgen. Für das scheinbare Ich ist es ein existentieller Verlust - für deine wahre Natur ist es die totale Freiheit.

Die meisten wollen sich zwar verlieben, sind aber nicht bereit, auch etwas von sich zu geben. 

Wer jedoch bereit ist, ALLES von sich zu geben, wird ALLES - das Paradies - gewinnen.
Was das ALLES bedeutet, kann in Worten nicht ausgedrückt werden
…. finde es selbst heraus.