Glaube versus Spiritualität

Alle Menschen glauben an etwas oder jemanden. Der Glaube bindet den Menschen an Vorstellungen und Hoffnung, dass sich der momentane Zustand irgendwann verbessern möge und dass sich dann das Gewünschte wie beispielsweise das Glück, die Liebe, der Reichtum und die Anerkennung einstellt.

 

Die Welt suggeriert den Menschen unzählig viele Wege und Glaubensrichtungen, die das scheinbar ausstehende Ziel möglich machen. Jede Glaubensgemeinschaft oder Gruppierung hat eine bestimmte Idee und verfolgt diese nach einem gewissen Konzept. Das sind zum einen die Religionen und Esoterik, zum anderen die Bereiche der Medizin, der  Ernährungswissenschaften, die persönliche Bildung und Intelligenz, die Philosophie usw. Sie wirken als System, das klare Regeln vorgibt und sowie sie eingehalten werden, kann der Gläubige den entsprechenden Preis oder Belohnung erhalten. Beispielsweise dass er Gott näher kommt, dass er bis ins hohe Alter körperlich fit und gesund ist oder dass er in der Gesellschaft integriert ist und ein angesehener erfolgreicher Mensch ist. Auch sämtliche spirituellen Konzepte weisen auf einen Weg oder eine Technik hin, die ein höheres Bewusstsein oder Erleuchtung versprechen, wenn sie entsprechend praktiziert wird. Die größte Glaubensgruppe, die sich durch alle anderen zieht, ist der Glaube an Glück durch Wohlstand und Wissen. Auch die Illusion, dass erlerntes Wissen weise macht, schwingt in den Wohlstandsglauben hinein.

 

Alle Glaubensbewegungen haben eines gemeinsam, dass sie aus dem Prinzip des Mangels und der Trennung heraus handeln und glauben,
darin eine Lösung finden zu können.
Es sind nun schon viele Millionen von Jahren vergangen und dieses Glaubensprinzip hat die Menschheit, die Natur und die Welt bisher nicht gerettet. So können wir uns die Frage stellen, ob es wirklich einen Gott gibt, der daran Interesse hat, dass dutzend Regeln eingehalten werden und täglich Gebete gesprochen werden?
Wenn die Priester, Meister, Heiler und Gurus wirklich die Macht hätten, dass sie mit ihren Ritualen oder ihrer Hand die Menschen heilen könnten, warum sind dann nicht alle schon geheilt und erlöst? Wenn jemand von dem Glück und der Liebe spricht, welche zu erreichen ist, warum sind dann die Menschen nicht wirklich glücklich?

Bild von Jeremy Bishop aus Unsplash
Der Mensch braucht das Bewusstsein, das ihn befähigt, aus einer völlig anderen Perspektive zu schauen. Es braucht einen radikalen Shift in der Sichtweise und Wahrnehmung, um von grundlegender Veränderung und Transformation sprechen zu können.
Bei allen weltlichen Wegen geht es, auch wenn sie oft so genannt werden, nicht um Spiritualität, sondern um gelebte Ungewissheit, dem Glauben. Diese Konzepte wirken alle in der Psyche, also auf der sehr persönlichen Ebene. Deshalb können Verhaltensmuster auf dieser Ebene nur kennengelernt, verfestigt, verändert und kontrolliert, aber nicht aufgelöst werden. Hier werden nur neue Informationen von anderen Menschen aufgenommen, ausgeübt und gefestigt. Wenn neue Informationen nur hinzugefügt werden, geht es den gewohnten Mustern und Schatten nicht wirklich an den Kragen und aus diesem Grund ist diese Ebene zunächst nicht so bedrohlich und man begegnet dieser Arbeit mit weniger Widerstand. Meistens ist das Glaubenskonzept leicht zu verstehen und oft in einem Wochenend-Kurs erlernbar. Dementsprechend ist es, wie bei allem in der Welt, bei geringer Aussaat auch eine überschaubare Ernte. Mit anderen Worten, es kommt nicht viel dabei heraus, denn die Muster und Ängste bleiben nach wie vor, sie sind nur etwas verrückt worden.
Das eigentliche unfassbare Wunder ist nicht nur, dass kaum ein Mensch tiefergehende Fragen über das Leben und das menschliche Dasein stellt, sondern auch, dass sein Forschen darin schnell versiegt. Der Bereich der Sinnsuche, der zur wahrhaftigen Spiritualität führen kann, wird von der Gesellschaft meist als illusionärer Spinnkram betrachtet. Das ist auch zum größten Teil gerechtfertigt, weil die praktizierenden Suchenden in ihren weltlich-persönlichen Konzepten hängen bleiben und die Grenze zur wahren Spiritualität gar nicht überschreiten.
Natürlich gibt es Wissenschaftler und Psychologen, die sich auch solche und ähnliche Fragen stellen, aber auch sie verlassen nicht die Ebene der Psyche und die des Verstandes. Wenn man nur die Psyche verstehen will, glaubt man, die Muster immer besser verstehen und erkennen zu können, man ist sich aber nicht bewusst, dass man nur das erkennt, was dem Sammelsurium an Neurosen und Verhaltensmustern zugrunde liegt. Man ist dazu verleitet, ein psychisches System verstanden zu haben, ja sogar auf die entsprechenden Zusammenhänge des menschlichen Wesens schliessen zu können und schon gibt es ein weiteres Psycho-Märchenbuch. Das ist so, als würde man zwar seine Werkstatt ordentlich aufräumen, aber man verlässt sie nicht, um sie von außen, aus einer neuen Perspektive zu betrachten.

Hier unterscheidet sich die Wissenschaft, Psychologie und alle anderen Glaubensrichtungen von den Menschen, die den wirklich spirituellen Befreiungsweg gehen. Hier beginnt man zwar auch erst in der Psyche und möchte sie gerne besser verstehen, aber dann löst man sich immer mehr aus dem Glauben und der Anhaftung, dass auf diesem Weg eine Lösung möglich ist. Man wendet sich einem inneren Raum zu, der die Möglichkeit in sich trägt, durch zart entstehendes Vertrauen Gewohnheiten und scheinbare Sicherheiten immer mehr loszulassen.
Wie schon zu Beginn erwähnt, erfordern alle möglichen Glaubenswege und Gruppierungen gewisse Regeln und Hierarchien, die eingehalten werden müssen, damit die Gemeinschaft und die entsprechende Lehre dauerhaft bestehen kann.
Im Gegensatz dazu geht es auf dem spirituellen Weg um die Auflösung all dieser unzählig komplexen ineinander verwobenen Neurosen, Glaubenssysteme, Sichtweisen, Geschmäcker, Verhaltensmuster, Gewohnheiten und Bedürftigkeiten. Wir nennen das Gesamtpaket „Persönlichkeit“ oder auch „Schatten“.
Es darf dem Suchenden bewusst werden, dass dieser Erwachens- und Befreiungsprozess so revolutionär anders ist, als das, was er bisher für sich erlebt und geglaubt hat. Folgerichtig muss er über sein Person-sein hinausgehen, denn alles andere kennt er ja schon, das ist ja das ewige Herumirren im eigenen Wahnsinns-Labyrinth oder der ständige Ablauf des Spiels:      „…und-täglich-grüßt-das Murmeltier“.


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Viele Suchende stoßen auch auf die Spiritualität durch ein schmerzvolles Gefühl von Mangel und Trennung. Im Laufe der Suche kann eine wesentliche Zutat hinzukommen, nämlich die Ahnung, dass die Gedanken und die gesamte Welt nicht real sein kann. Im Unterschied zu allen weltlichen Glaubenslehren geht hier der suchende Blick von Außen auf die Welt nach Innen, in etwas Stilles und Ungewusstes. Das ist der entscheidende Punkt.
Es ist eine Art Ahnung, dass man die Welt in ihrer Gesamtheit als unrealer empfindet als Das, was man zwar nicht definieren kann, das aber so stark geworden ist, dass man es auch nicht mehr ignorieren kann.
Es ist etwas, was neu ist und doch so vertraut, weil es unsere Natur ist. Es braucht also die tiefe Bereitschaft, den gewohnten Blick auf die Gedanken und die Welt immer mehr abzuwenden und sich auf etwas ganz Neues, etwas Nicht-Wissendes einzulassen.
Jeder Mensch ist individuell und dementsprechend wird sich jeder Weg zur spirituellen Befreiung einzigartig ausdrücken. Dabei kann eine spirituelle Begleitung von einem wachen und befreiteren Menschen sehr hilfreich sein, der wiederum auch einen individuellen Weg gegangen ist. Es kann jedoch nur eine Begleitung sein, die nicht geprägt ist von systemischen Vorgaben und weiteren Konzepten und Lehren. Also geht es nicht darum, eine weitere neue Glaubensidee zu lernen und zu vertiefen, sondern um sie zu verlernen und letztlich sie als Illusion zu durchschauen. Es geht nicht, wie oft gedacht, um das Auflösen von Wissen, sondern nur um das Loslassen vom Glauben und die Anhaftung an das Wissen, was sowieso oft keines ist. Wenn der Mensch glaubt, dass er weiß und an seinen Überzeugungen festhält, ist er nicht mehr offen für das bewusste Leben und das ist dann bereits die Endstation seiner lebendigen Forschungsreise. Lässt man sich auf den Befreiungsprozess ein, werden zigtausende Glaubensmuster in Erscheinung treten, die in sich verwoben sind und durch verschiedenartige Verhaltensmuster, Neurosen und Ängste zum Ausdruck kommen, so dass zuerst einmal sehr viel Widerstand und Verteidigung auffährt. Diese „Schatten“ existieren nur in einem und für einen selbst.
Es braucht diesen individuellen Ausdruck des gesamten Schatten-Cocktails, denn, „nur“ dadurch kommt der Suchende, wenn er sich dann wirklich auf seinen Befreiungsprozess einlässt, immer mehr zu seinem individuellen Seins-Ausdruck. Ja und das „nur“ ist wahr. Denn wer die Befreiung für sich nicht durchlebt, wird mehr oder weniger den Ausdruck seiner Muster und Schatten leben, aber nicht sein wahres freies Sein.
Dazu kommt, dass er nur ca. 20% seines Umfeldes wahrnimmt und den Rest durch seine Muster und den Verstand fertig interpretiert.
Auch alles, was er hört, interpretiert er sofort nach seinen vorgegebenen Denk- und Verhaltensmustern so um, dass dies alles zu seiner Bedürftigkeit und zu seinem vorgefertigten Weltbild passt.
Wer hier nun glaubt, dass er durch seine eingefärbte und selbst geglaubte Intelligenz genügend ausgerüstet ist für diese innere Reise, würde sich ehrlicherweise irgendwann eingestehen müssen, dass das Gegenteil der Fall ist. Um so intelligenter der Mensch sich sieht, um so mehr wird er an seinem Glauben festhalten und ihn verteidigen.
Ja und du ahnst es schon: Kaum eine Chance!


Aber was ist die Alternative?
Die Chance, ein freies friedliches und erfülltes Leben zu leben. Oder du lebst so weiter wie bisher, wo die Schatten dein Leben leben und du dich von ihnen fremdbestimmt und gefangen fühlst. Wo du wie betäubt durchs Leben gehst in ständiger Bedrohung und bedürftig nach ständiger Anerkennung und Liebe.

Dies ist die gigantisch größte Herausforderung für den Menschen, die schwierigste und intensivste und in gewisser Weise doch das einfachste und natürlichste Geschehen, was dem menschlichen Wesen zuteil werden kann. Es ist eine Art Studium, das in die wirkliche Bewusstheit führt und den Menschen aus seiner Versklavung des Verstandes und der Schatten befreit und in eine wahrhaftig und erlebbare Glückseligkeit, Liebe und Frieden führen kann, was er vielleicht schon immer geahnt hat und für Augenblicke auch manchmal schon wahrnimmt und erlebt.
So ist Spiritualität also eine Forschungsreise, die den Menschen über die Selbsterforschung und der Zuwendung zum verkörperten Bewusstsein aus der Psyche begleitet. Sie führt ihn durch Erkennen und direktes Erleben in die Seins-Ebene, die über das gewöhnliche Empfinden, eine getrennte Person zu sein, hinausgeht. HIER ist der Urgrund allen Lebens, alle Kraft und die Erfahrung der Wirklichkeit.